Das Leben Version 2.0 kam erwartet und doch war ich total unvorbereitet.
Als mein Bruder an Magenkrebs erkrankte wurde bald auch die Gen-Mutation CDH1 bei ihm entdeckt. Damit wurde die ganze Familie in einen genetischen Strudel gezogen. Die CDH1 Gen-Mutation wird mit einer Chance von 50% vererbt und löst zu 70% ein Magenkarzinom, bei Frauen zu 60% Brustkrebs aus.
Kurz vor seinem Tod wurde ich auch positiv auf die CDH1 Mutation getestet. Damals habe ich das einfach zur Kenntnis genommen. Es tat mir einfach unglaublich leid für meinen Bruder, da er der festen Überzeugung war, dass es uns wohl nicht beide treffen dürfe. Er wollte unbedingt noch einen Schluck Champagner auf das negative Resultat trinken.
So aber kam es, dass ich statt Champagner Glas haltend, im Inselspital zur weiteren Beratung landete. Da erklärte man mir, dass es nur die prophylaktische Magenentfernung als Option geben würde. Mir wurden sofort Vorbereitungstermine in die Hand gedrückt. Die hektische Atmosphäre und die komplette Überrumpelung haben meinen Kopf zum Drehen gebracht und erst auf der Heimfahrt verlangsamte sich das Karussell. Mir war klar, dass jetzt der falsche Zeitpunkt für so eine Aktion war. Mein Bruder hatte sich gerade entschlossen alle Therapien und die künstliche Ernährung abzubrechen. Damit war klar, dass er nur noch ein paar Tage bei uns sein würde.
Nach seinem Tod bekam ich die Adresse eines Gastroenterologen, der sich sehr intensiv mit Familien mit der CDH1 Mutation befasst. Ich meldete mich und er schlug als erstes eine Magenspiegelung vor. Dabei werden random Biopsien genommen, in der Hoffnung an der richtigen Stelle zu punktieren. Das hereditäre diffuse Magenkarzinom ist nicht sichtbar bei der Magenspiegelung. Es wächst nicht auf der Magenwand als Blumenkohl Tumor, sondern nistet sich eben diffus in der Magenwand ein.
Die Biopsien waren alle negativ und der Arzt erklärte mir, dass wir mit diesem Vorgehen auch weitermachen könnten. Ich würde zur jährlichen Magenspiegelung inkl. Biopsien kommen und wenn wir Glück hätten… ja was würde Glück in diesem Fall bedeuten? Entweder wären die Biopsien immer negativ, weil man an der falschen Stelle punktiert hat oder ich wäre tatsächlich negativ oder das Biopsie Resultat wäre positiv.
Ich rechnete ich mir aus, dass bei mir wohl eher der Brust- statt der Magenkrebs zuschlagen würde. Daher würde ich das Risiko eingehen, statt einer prophylaktischen Magenentfernung, auf jährlich Kontrollbiopsien zu setzen.
Ich kaufte kurz vorher ein älteres, zwar bewohnbares, aber doch stark renovationsbedürftiges Haus. Zusammen mit meinen Eltern haben wir es wieder Instand gesetzt und uns ein wunderschönes Generationenhaus geschaffen. Die Arbeit hat uns allen gut getan und half über viele trauernde Momente hinweg.
Ein halbes Jahr nach mir zogen auch meine Eltern ein. Die harte Arbeit am Haus war nur die Vorbereitung auf den eigentlichen Stress, den ihr Hausverkauf und den Umzug für meinen 81-jährigen Vater und meine 72-jährige Mutter auslöste. Ihr Energie Haushalt wurde ziemlich belastet. Aber die beiden haben diese späte Entwurzelung und den Umzug quer durch die Schweiz, in eine für sie komplett, unbekannte Ecke sehr gut gemeistert. Endlich kehrte ein bisschen Ruhe ein. Es musste nicht immer noch was geflickt, gestrichen, erneuert werden und so konnte ich ihnen langsam die wunderschöne Umgebung im Berner Oberland zeigen.
Die Ruhe vor dem Sturm hielt nicht sehr lang an. Im Juli 2023 standen wieder die Kontrollen an. Die Mammographie zeigte keine Auffälligkeiten. Aber im MRI wurde in der rechten Brust eine Veränderung entdeckt. Eine Woche später dann die Biopsie und dann die Diagnose lobuläres Mammakarzinom.
1 1/2 Jahre nachdem ich dieses CDH1 Damoklesschwert erhalten hatte, war die Diagnose keine grundsätzliche Überraschung, aber ich hatte doch gehofft, dass ich noch ein paar Jahre Ruhe hätte… jänu.
Am Tag drauf kam dann noch die Kontroll-Magenspiegelung. Der Brust OP Termin wurde auf Mitte August festgelegt und mir war klar, dass es nur ein mögliches Vorgehen geben würde, die beidseitige Brustentfernung. Bis zum OP Termin würde ich weiter arbeiten, weil ich mich immer noch kerngesund fühlte und keinerlei Beschwerden hatte.
Eine Woche später bekam ich am Sonntag dann das Telefon, welches mir wirklich kurz den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Auch eine der Magenbiopsien war positiv. Am Montag begannen die Vorbereitungsuntersuchungen und der Magen OP Termin wurde auf 10 Tage später angesetzt.
Da der lobuläre Brustkrebs sehr langsam wächst, der Magenkrebs schneller und wenn er erst mal gestreut hat, nicht mehr therapierbar ist, wurde der Brusttermin verschoben. Diese 10 Tage zwischen den Untersuchungen nutzte ich für Wanderungen und Kopfleerete, arbeiten war grad überhaupt kein Thema mehr.
Die Magenentfernung wird laparoskopisch durchgeführt und ist damit minimal invasiv. Dadurch stellte ich mir auch vor, dass die OP selber nicht so Ding ist. Dass ich mein Leben in Bezug auf Essen aber komplett umstellen muss, war ich mir schon bewusst.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass diese kurze Zeit der Naivität wunderbar war und ich darum diese 10 Tage noch so richtig geniessen konnte. Nun dazwischen gab es noch Gallenkoliken und eine Steinentfernung aus dem Gallengang, aber wenn man schon mal dran ist … 😉 Wenigstens war es tatsächlich nur ein Stein und nicht wie befürchtet, Metastasen, die sich bereits gemeldet hatten.
Ja und dann war eben der Magen draussen und das Leben 2.0 ging los. Drei Wochen lang wurde ich künstlich ernährt. Es war der heisse August, im Spitalzimmer war es konstant 34 Grad. Man schwamm auf der mit Plastik überzogenen Matratze und ich war nur noch ein Haufen Schwäche. Sieben Kilo Wasser hatte ich nach der 8-stündigen OP eingelagert, die den ohnehin schon gestressten Kreislauf zusätzlich belasteten und das Herz raste. Da Erholung im Spital sowieso ein Fehlerwartung ist, drückte ich nach drei Wochen auf den Austritt. Das hiess aber auch, dass ich nur gerade 1 1/2 Tage mit pürierter Kost vorbereitet wurde, bevor ich nach Hause ging. Mit Tipps von der Ernährungsberaterin in der Tasche, versuchte ich mein Leben ohne Magen wieder in den Griff zu bekommen.
Aber die Verdauung hatte mich im Griff, ich hatte gar nichts im Griff. Es war mir einfach zwei Monate nur übel. Nach dem Essen, vor dem Essen, nach dem Aufwachen, beim Spazieren.. es war mir einfach drückend schlecht. Nach zwei Monaten zu Hause hatte ich schon fast 20 kg weniger und wegen dem schnellen Gewichtsverlust und den Mangelerscheinungen fingen mir an die Haare auszufallen. Der Haarausfall stresste mich extrem, obwohl ich mich nie als eitel empfunden hatte. Bei einer Chemo wären sie wohl auch ausgefallen, aber ich hatte keine und statt deshalb froh zu sein, stressten mich diese Büschel enorm.
Ende Oktober war dann auch klar, dass die Krankenkasse endlich bereit war mir eine beidseitige Brustentfernung zu bezahlen. Die „gesunde“ Brust hatte sie zuerst kategorisch abgelehnt und es gab einige Telefonate, die meinen Blutdruck in einen ungesunden Bereich brachten. Hätte ich die Gen-Mutation BRCA gehabt, dann wäre alles kein Problem gewesen, aber für die in Zahlen vergleichbare, aber seltenere CDH1 Mutation wurde nicht bezahlt.
Da der OP Termin erst auf den 22. November gesetzt wurde, startete ich mit einem 50% Pensum bei der Arbeit. Im Homeoffice, in einer sehr geschützten Umgebung bekam ich die Chance meinen Kopf wieder mit etwas anderem zu füllen, als „mir ist schlecht“, „wo ist die nächste Toilette“, „muss ich schon wieder was essen“ und die Arbeit hat mir sehr gut getan. Bis zur Brust OP konnte ich sogar meine Verdauung so stark beruhigen, dass ich weniger oft Durchfall hatte und die Tage an denen es mir einfach nur schlecht war, wurden weniger.
Nach der Magen OP war die Brust OP für mich nur noch Pipifax. Was Tausende von Frauen mit aufpolsterten Brüsten machen konnte, würde wohl nicht so ein Problem sein. Aber die OP hat an meinen, ohnehin schon sehr geschwächten Körper, nochmals ordentlich gezehrt. Schuld daran waren nicht nur die Antibiotika, die meine Verdauung wieder komplett aus der Bahn warfen, nein ich war einfach nur zu stark abgebaut im Allgemeinzustand.
Auch wenn von aussen nicht ersichtlich, gibt es ein sehr grosses Wundgebiet bei einer kompletten Brustentfernung. Mein ganzer Oberkörper war grün und blau, die Drainagen auf beiden Seiten mit denen ich nach Hause ging, halfen auch nicht ein Gefühl der Normalität zu bekommen. Bei jedem grossen Schritt oder jeder Rumpelei im Auto (Bahnschienen überqueren oder Baustellen waren der Horror) spürte man das grosse Wundgebiet unter dem dünnen Hautmantel. Aber es war die richtige Entscheidung gleich beide Brüste abzunehmen, denn in der linken, vermeintlich gesunden Brust wurden Vorstufen von Karzinomen entdeckt.
Die Wundheilung ging sehr schlecht voran, zu stark abgebaut war mein Körper. Gegen Ende Jahr waren bereits 30 kg weg. Weg war viel Fett, aber auch die ganzen Muskeln. Ausgedehnte Spaziergänge wurden schwierig, sich gerade halten oder länger zu sitzen wurde schmerzhaft, Kontinenz wurde plötzlich zum Thema, daher schlich ich immer näher um die Toiletten rum.
Zwischen Weihnachten und Neujahr wurden die Wunden schlimmer. Es fing an Wundwasser auszulaufen und die Wundränder wurden schwarz. Am 2. Januar fing ich wieder mit 50% arbeiten an, mit dick gepolstertem BH. Am 4. Januar habe ich dann endlich meine Brustärztin erreicht, nachdem ich über die Festtage nur immer mit dem Notfall in Verbindung war. Vor der Arbeit bekam ich sofort einen Termin und eine Stunde später sass ich bereits im Spital und wurde noch am Mittag operiert. Die Wunden wurden wieder geöffnet, ausgespült, die Wundränder neu ausgeschnitten und vernäht. … und natürlich bekam ich wieder Antibiotika und damit wieder zurück auf Feld zwei mit der Verdauung.
Eine Woche später war ich wieder 50% am Arbeiten, spürte aber die unglaubliche Erschöpfung meines Körpers. Zwei Stunden am Stück sitzen ging nicht.. ja ich weiss, ist sowieso nicht gesund 😉 . Eine intensive Session und ich bekam zu spüren, was ich vorher nur im Zusammenhang mit Long Covid gehört hatte. Fatigue, unbezwingbar, zumindest nicht mit dem Willen. Mein ganzes Leben lang hatte ich gedacht, es wäre alles nur eine Einstellung und Kopfsache. Mit purem Willen wäre alles erreichbar. Ging ich nun aber über meine Grenzen, war der nächste Tag gelaufen, ging dann gar nichts mehr.
Also kapitulierte ich anfangs Februar und bat meinen Hausarzt um eine Überweisung in eine Reha Klinik. Nach zwei Wochen, ja drei wären vermutlich optimal gewesen, aber so war ich einfach mal froh bezahlte die Krankenkasse zwei, bin ich jetzt wieder zu Hause und bereit für das Leben 2.0.
Ich wurde körperlich in diesen zwei Wochen unglaublich gut aufgebaut. Dazu kam die super Betreuung durch die Ernährungsberatung. Ich konnte mit ihnen sehr viel ausprobieren, wieder ein bisschen Sicherheit gewinnen. Aktuell habe ich wieder Durchfall, weil die Laktoseintoleranz, die ich nach der OP entwickelt habe, wohl doch noch da ist. Als ehemalige Vegetarierin bin ich unterdessen doch als Fleischesserin unterwegs, was nicht ganz einfach für mich ist. Wir haben verschiedene Nahrungsergänzungsdrinks ausprobiert und haben einen gefunden, den ich gut vertrage, der aber vermutlich auch wieder am aktuellen Durchfall schuld ist.
Aber das Essen wird immer eine Herausforderung bleiben. Acht Mahlzeiten im Laufe eines Tages, neben der Arbeit und dem Aufbausport … das ist eine sehr grosse Umstellung. Auswärts Essen, Besuch einladen oder auch nur den eigenen Rhythmus beim Essen in Einklang mit anderen zu bringen ist im Moment sehr schwierig.
In der Reha ging es aber nicht nur um Kraft, Fitness und Ernährung, sondern auch viele andere Aspekte kamen zum Zug. So fand ich mit der Psychologin das Wort „Überlebensscham“, welches mir im Zusammenhang mit meinem Bruder sehr stark zu schaffen macht und ich jetzt zu Hause näher für mich untersuchen kann. Ich bekam viel wertvollen Input in Bezug auf Fatigue und Energie Management. Spezielles Einzeltraining zur Stärkung der Beckenboden Muskulatur und kleine Ablenkungen im Werken.
Mit diesem Reha Aufenthalt geht nach sieben Monaten eine schwere Phase meines Lebens zu Ende. Es hat viel Kraft gekostet, auch wenn ich ein Mensch vom Typ „das Glas ist halb voll“ bin. Auch bin ich noch nicht da wo ich sein will, aber ich sehe, dass es weitergeht und ein sehr gutes Leben weiterhin möglich ist. Ich bin mir selber unheimlich dankbar, dass ich nicht gewartet habe, viele meiner Träume zu erfüllen, so fällt es mir jetzt leicht gewisse Dinge anzunehmen, die vermutlich nicht mehr gehen werden.
Ich werde jedoch weiterhin sehr viel Geduld brauchen, ein sehr rares Gut bei mir. Aber ich freue mich auf alles was die Zukunft bringt.
Unterdessen sind 40 kg weg und das heisst, ich werde jetzt erstmal eine neue Garderobe kaufen gehen und dieses neue Körpergefühl geniessen.
Und durch das ausgedehnte Krafttraining kann ich jetzt auch hoffentlich meinen schweren Fotorucksack wieder durch die Gegend tragen.
Die folgenden Fotos sind in den letzten sieben Monaten entstanden:
Wow! Ich kenne ja die ganze Geschichte, aber mit deinen persönlichen Worten und deinen Gedanken dazu … das ist sehr eindrücklich!
Danke dass du das mit uns teilst
Danke Janine 🙂